Im Mittelpunkt des Films „Concrete Valley“ aus dem Jahr 2022 steht eine Familie syrischer Einwanderer nach Kanada, die Schwierigkeiten haben, sich im Aufnahmeland niederzulassen
Am 16. Februar 2023 eröffnete man die 73. Berlinale. Einer der rund 290 Filme, die aus 67 Ländern stammten, war der 2022 gedrehte kanadische Film „Concrete Valley“. Der 90 Minuten lange Spielfilm lief in der Sektion Forum.
Der 1983 in Frankreich geborene Regisseur Antoine Bourges ist zusammen mit Teyama Alkamli auch Drehbuchautor. Dieses Werk ist der zweite abendfüllende Film des Regisseurs. Neben seiner Tätigkeit als Filmschaffender ist er auch Dozent für das Fach Filmproduktion an der University of British Columbia.
Die Hauptrollen in Concrete Valley spielen Hussam Douhna, Amani Ibrahim, Abdullah Nadaf und Lynn Nanume.
Der Zuschauer lernt eine syrische Familie kennen. Um dem Gräuel im Heimatland zu entgehen, ist man nach Kanada geflohen. Die Kleinfamilie besteht aus Raschid, einem Arzt für Naturheilkunde. Seine Frau Farah ist in Syrien eine bekannte Schauspielerin gewesen. Der kleine Sohn Ammar geht zur Grundschule. Seit fünf Jahren lebt die aus der syrischen Oberschicht stammende Intellektuellenfamilie in Toronto.
Hier hausen sie mehr als das sie wohnen in einem verkommenen Hochhaus. Alle Bewohner sind Migranten. Alltägliche Probleme sind an der Tagesordnung. So der Ausfall des Warmwassers beispielsweise. Das Warmwasser fällt oft für zwei oder noch mehr Wochen am Stück aus. Die Hausverwaltung verspricht jedes Mal schnelle Abhilfe. Raschid muss erfahren, dass der Hausmeister, der ebenfalls Migrant ist, nur vertrösten kann. Die Hausverwaltung gibt den Bewohnern und dem Hausmeister zu verstehen, man werde „sich um die Flüchtlingsunterkunft schon kümmern. Demnächst aber erst“. Fehlende Materialen für die Heizungsanlage kann man ja auch gebraucht kaufen. Die Flüchtlinge sollen gefälligst dankbar sein, dass sie ein Dach über dem Kopf haben. Warmwasser, um zu baden, kann man ja auch in Kesseln auf dem Herd kochen.
Düstere Zukunftsaussichten
Raschid müht sich ab, einen Sprachkurs erfolgreich zu belegen. Als Arzt darf er in Kanada keineswegs tätig sein. Seine syrische Ausbildung wird in Kanada nicht anerkannt. Farah spricht nicht perfekt eine der Amtssprachen. Eine in Kanada lebende Schauspielerin, die weder perfekt englisch noch französisch sprechen kann, ist auf dem Arbeitsmarkt für Schauspieler unbrauchbar. Sie arbeitet in einer Drogerie und tritt einer Bürgerinitiative bei. Diese Bürgerinitiative will ein Bewusstsein dafür schaffen, ehrenamtlich Obstbäume zu pflanzen und die Wohngegend sauber zu halten.
Raschid behandelt im Wohnhaus Mitbürger, die gesundheitliche Probleme haben. Er kommt dann aus seiner Lethargie heraus. Da er Naturheilmediziner ist, kann er Kranken wertvolle Tipps geben, wie sie sich mit Extrakten aus Pflanzen und bei richtiger Ernährung heilen können. Natürlich kann das nicht „an die große Glocke“ gehangen werden. Offiziell darf Raschid nicht als Arzt in Erscheinung treten. Seine wenigen nichtoffiziellen Patienten aus aller Welt sind ihm sehr dankbar für seine hilfreichen Heilungsmethoden. Mal wird er mit selbstgebackenem Kuchen beschenkt, mal mit einem selbstgestrickten Schal. Er möchte so gerne für seine Familie sorgen, dass jedoch ist ihm versagt. Eine andere sinnvolle Arbeit, wenn schon nicht der Beruf des Mediziners ausgeübt werden darf, kommt noch nicht in Frage.
Momentan sind seine englischen Kenntnisse in Wort und Schrift nicht ausreichend, um auf dem Arbeitsmarkt anklopfen zu dürfen. Er sieht, wie seine Frau täglich zur Arbeit geht. Sie ist es, die die Familie ernährt. Raschid bekommt als Sprachschüler nur ein kleines Taschengeld. Keiner macht dem anderen Ehepartner Vorwürfe. Der Zuschauer sieht aber an der Mimik von Raschid, dass es ihn bedrückt, wenn seine Frau wieder zur Arbeit geht oder aus der Drogerie kommt. Er hat in seinen Augen wieder einen Tag nutzlos im Spracheninstitut verbracht. So manche Lernaufgabe sagt ihm auch nicht zu. Eine Lehrerin will von den Schülern wissen, wie sie ein Profil auf einer Dating-Plattform erstellen würden. Raschid wirft ein: „In meiner alten Heimat haben wir keine Dating-Plattform benutzt“. Die Lehrerin duldet keinen Widerspruch. Raschid hat den Auftrag zu erfüllen. Also kommt er der pädagogischen Anordnung, wenn auch widerwillig, nach.
Ammar hat überhaupt keine Berührungsängste in seiner neuen Heimat! Im Sommer spielt er in einem Verein Rollhockey in einer Turnhalle. Im Winter wechselt man vom Rollhockey zum Eishockey, dem Nationalsport Nummer 1 in Kanada. Die Familie führt kein schweres, aber auch kein einfaches Leben.
Flüchtlinge haben ihre Würde verloren
Regisseur Antoine Bourges spricht die Flucht aus dem Kriegsgebiet Syrien unter einem kaum beachteten Aspekt in den Aufnahmeländern an. Raschid, Farah und Ammar haben keine Verwandten im Kriege verloren. Die Kleinfamilie ist nicht verletzt worden im Krieg und auf der Flucht. Man hat materielle Werte wie Haus, Auto, Klavier und Hausrat kriegsbedingt verloren.
Das alles kann man neu kaufen. Antoine Bourges und die Schauspieler machen dem Zuschauer klar, Flüchtlinge haben ihre Würde verloren. Der einst so hochangesehene Mediziner, die einst in ihrem Heimatland so bekannte Künstlerin sind „Herr und Frau Niemand“ geworden in Toronto. Keiner redet Raschid mit „Herr Doktor“ an. Keiner möchte von Farah ein Autogramm oder fragt höflich nach, ob man ein Selfie erstellen darf. Das war einst in Syrien so. Raschid und Farah nehmen den für sie so großen Abstieg ohne zu klagen hin. Ohne Worte erfährt der Zuschauer aber anhand einer beeindruckenden Mimik, die Familie ist glücklich, dass Kanada sie aufgenommen hat. Bei dem Verlust von Würde, dem Ansehen in der Gesellschaft, dem Status von einst, kann das Aufnahmeland nicht immer hilfreich und überall den Migranten zur Seite stehen.
Der große Lichtblick für die Eltern in diesem Spielfilm ist ihr Sohn Ammar. Der kleine Kerl kennt die Regeln des Eishockeysports und die Namen der Stars. Fit ist er auch in Sachen American Football. Ammar ist längst 100prozentig in der nordamerikanischen Gesellschaft angekommen. Für seine Eltern ist es noch ein langer Weg bis dahin.
Text: Volker Neef
Foto: General Use