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Le Grand Chariot- Berlinale

Francine Bergé, Louis Garrel, Aurelién Recoing (Foto: © Benjamin Baltimore / 2022 Rectangle Productions - Close Up Films - Arte France Cinéma - RTS Radio Télévision Suisse - Tournon Films)

Le Grand Chariot- Berlinale

Bei der 73. Berlinale lief in der Kategorie Wettbewerb der Spielfilm Le Grand Chariot.

Das französisch-schweizerische Drama trägt im englischsprachigen Raum den Filmtitel The Plough.

Regisseur des 95 Minuten langen Filmes ist Philippe Garrel. Man kennt den 1948 geborenen Filmschaffenden u. a. an seinen „Markenzeichen“ in seinen zahlreichen Filmen. Das sind die Themen Familie, Drogen und die Liebe. Bereits 1968 erregte er großes Aufsehen mit seinem Film „Marie pour memoire“. Er thematisierte die Probleme einer jungen, schwangeren Frau.  Sein Wissen als Regisseur gibt er an den Nachwuchs weiter. Garrel ist auch als Dozent an der Hochschule für Film und Audiovision in Paris (La Femis) tätig.

2020 war der Filmschaffende bereits zu Gast bei der Berlinale. Man zeigte in Berlin als Uraufführung das Liebesdrama „Das Salz der Tränen“. In seinem 2023 auf der Berlinale gezeigten Werk Le Grand Chariot macht uns Philippe Garrel mit einer Puppenspielerfamilie bekannt. Ein Wittwer namens Simon (Aurelien Recoing) und seine drei Kinder Louis, Martha und Lena sind mit den Puppen aus Holz und der hölzernen Bühne aufgewachsen. Man zieht durch die Lande und lebt mehr schlecht als recht vom Verkauf der Eintrittskarten. Philippe Garrel hat im wahrsten Sinne des Wortes ein Familienwerk erschaffen. Seine drei Kinder Louis, Esther und Lena haben die Hauptrollen übernommen. Der Truppe schließt sich der Träumer Pieter an. Den immer geistesabwesenden und von einer internationalen Karriere als Kunstmaler träumenden Romantiker spielt mit herausragender Mimik Damien Mongin. Zur Familie der Puppenspieler zählt noch Simons Mutter. Die Oma (Francine Berge) von Louis, Martha und Lena hütet das kleine Haus, wenn man auf Tournee ist. Sie ist Tochter eines Puppenspielers und kann für sich und ihren Sohn sowie die Enkelkinder nur eines sich vorstellen: Man ist als Puppenspielerkind zur Welt gekommen, man wird als Puppenspieler diese Welt verlassen. 

Pressekonferenz (Foto: Volker Neef)

Der Altmeister des französischen Films hat dieses Werk wie ein Protokollführer oder Geschichtenerzähler gedreht. Man erfährt bei den Aufführungen der Puppenspieler von den Geschichten des Hanswursts, des Königs, seiner Tochter und des um diese Hand anhaltenden Prinzen aus einem anderen Land.

Genauso beeindruckend, wie die Puppenspieler vor den begeisterten Kindern im Zuschauerraum ihre Stücke aufführen, erzählt uns Zuschauern Philippe Garrel die Lebensgeschichte von Simon und den drei Kindern, seiner Mutter und dem Mitarbeiter Pieter. Garrels Lieblingsthemen in jedem Film, die bereits erwähnte Familie, Drogen und die Liebe, spielen auch in Le Grand Chariot die Hauptrollen. Da ist zum einen der einzige familienfremde Mitarbeiter. Pieter ist gerade Vater eines Sohnes geworden, hat sich aber während seiner Zeit bei den Puppenspielern in Lena verknallt. Ihr Bruder Louis wiederrum lernt Pieters Freundin und den Sohnemann kennen und verknallt sich in Frau und Kind. Die Droge in Le Grand Chariot ist die Besessenheit zur Arbeit! Das Puppenspiel bringt sehr wenig Geld ein. Man möchte es aber nicht aufgeben. Bei Pieter ist es die Malkunst. Er möchte neben seiner Tätigkeit als Puppenspielerhelfer Kunstwerke erschaffen. Das tut er auch. Leider ist er kein Kaufmann. So manches Gemälde wird 20mal mit teuren Farben übermalt. Trifft Pieter wirklich auf einen Kunstliebhaber, der ihm ein oder zwei Werke abkaufen möchte, kann er sich von keinem seiner Kunstwerke trennen. 

Alles läuft in eingefahrenen Bahnen. Das Geld ist immer knapp, aber niemand muss Hunger leiden. Dann kommt die ganz große Zäsur! Vater Simon bricht bei einem Auftritt zusammen. Er fällt lange als Mitwirkender aus. Stücke müssen umgeschrieben werden, weil ein Akteur fehlt. Leider kommt es nicht so, wie von allen Beteiligten erhofft. Simon kehrt nicht mehr zum Ensemble zurück. Aus der erhofften Erholung nach seinem Zusammenbruch wird nichts mehr. Der Prinzipal verstirbt. Zu allem schon vorhandenen Unglück gesellt sich das nächste! Kurz nach dem Tod ihres Sohnes verstirbt seine Mutter. 

Louis, Martha und Lena sowie Mitarbeiter Pieter sind nun auf sich allein gestellt. Kann die Puppenspielertruppe zusammenbleiben? Louis träumte schon immer davon, statt unbedeutender Puppenspieler ein erfolgreicher Schauspieler zu werden. Pieter könnte ja nun den Zeitpunkt sehen, sich ganz und gar der Malkunst zu widmen. Louis und Pieter unterhalten sich über ihrer beider Zukunft. Louis stellt die Frage: „Wenn wir jetzt nicht die Truppe verlassen, wann dann?“

Werden die Schwestern Martha und Lena zu zweit das Puppenspiel fortführen? Hat es überhaupt eine Zukunft? Werden die beiden jungen Frauen das überhaupt stemmen können? 

Die Kinder haben ihr Leben lang alles vorgespielt bekommen. Sie mussten nur die Puppen in die Hände nehmen und den Text aufsagen. Für alles und für jedes kleinste Details hatte Vater Simon gesorgt. Für den Haushalt und den kleinen Garten am Haus war Großmutter zuständig. Plötzlich muss jedes Kind der Puppenspielerfamilie und Pieter das eigene Leben selber in die eigenen Hände legen. Die Zeiten, in den denen Simon gesagt hatte, welches Stück man wo spielen wird, sind vorbei. Diese Zeit ist mit dem Tod des Vaters erloschen. 

Philippe Garrel hat eine Liebeserklärung an das Puppenspiel mit seinem Film Le Grand Chariot erschaffen. Der Künstler weist auch darauf hin, wie viel Kultur in einer Puppenbühne steckt. Schauspieler und Puppenspieler sind artverwandte Berufe! Es kann nicht egal sein, ob beispielsweise aus Kostengründen in einer Kommune ein Theater dichtgemacht wird oder ob sich eine kleine Künstlerfamilie für immer vom Puppenspiel abwendet. Bei jedem „Tod“ einer Kultureinrichtung stirbt ein Teil des Lebens! Kultur gehört zum Leben, so die Aussage und der Film Le Grand Chariot. Ein Meisterwerk des mittlerweile fast 75jährigen Philippe Garrel. Er und seine im Film mitspielenden Kinder sowie die anderen Darsteller verneigen sich tief vor den Leistungen der Puppenspieler.

Da haben wir wieder den Bezug zur Familie, ohne ihn kein Film vom französischen Altmeister! Puppenspieler und Schauspieler sind zwar keine Geschwister, aber immerhin Cousins.

Grand Film! Merci Monsieur Garrel!

Text: Volker Neef

Foto: © Benjamin Baltimore / 2022 Rectangle Productions – Close Up Films – Arte France Cinéma – RTS Radio Télévision Suisse – Tournon Films ; Volker Neef

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Frank Pfuhl
Frank Pfuhl
SDHB Redaktion Berlin