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Russisch-orthodoxer Friedhof in Berlin-Reinickendorf

Russisch-orthodoxer Friedhof in Berlin-Reinickendorf

Der Tod gehört unweigerlich zum Leben. Von der ersten Minute, an der wir uns auf Erden befinden, nähern wir uns auch schon dem Lebensende. Manch einer wird „alt wie ein Baum“, andere sterben sehr jung. Daher gehört unser heutiger Besuchstipp für die Bundeshauptstadt Berlin zu der Kategorie, die mit dem Sterben verbunden ist. In der Wittestraße 37 im Berliner Bezirk Reinickendorf befindet sich der einzige zivile russisch-orthodoxe Friedhof in der Bundeshauptstadt.

Dabei handelt es sich um ein 33.000 Quadratmeter großes Areal.

Eigentümer ist die „Bruderschaft des Heiligen Fürsten Wladimir“. Die Bruderschaft des Heiligen Fürsten Wladimir ist ein russisch- orthodoxer Wohlfahrtsverein. 1890 in Berlin gegründet, um in Not geratenen Bürgern aus Russland in Berlin zu helfen. Davon gab es damals viele, denn zahlreiche Bürger aus dem Zarenreich wollten nach Amerika auswandern und strandeten in der Metropole Berlin, weil ihnen da bereits das Geld für die geplante Reise über den „Großen Teich“ ausgegangen war. Auf dem Friedhofsgelände hatten die Anhänger der Bruderschaft 4.000 Tonnen Heimaterde aus Mütterchen Russland verteilen lassen, um somit sicherzustellen: Die Toten ruhen in russischer Erde. Dies sind russische Bürger, die sich zum orthodoxen Glauben bekennen sowie russisch-orthodoxe Christen aus aller Welt. Die meisten von ihnen stammen aus den Ländern des orthodoxen Glaubens, also das ehemalige Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland, Moldavien und Rumänien. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sieht man in Reinickendorf auf Grabsteinen auch Bibelverse in usbekischer, armenischer, georgischer, kasachischer, aserbaidschanischer und turkmenischer Sprache. Auch in diesen Ländern leben bzw. aus ihnen stammen Menschen, die sich zur russisch-orthodoxen Kirche bekennen. Es befinden sich auch Grabsteine auf dem Friedhof, die in arabischer Schrift vom Steinmetz ausgestattet worden sind. In Tadschikistan wird neben russisch auch Farsi, also Persisch, gesprochen. Die Schriftzeichen von Farsi sind die arabischen Buchstaben. Man findet auch einige Grabsteine vor, die mit griechischen Buchstaben ausgestattet sind.

Eine kleine Kirche steht inmitten des Friedhofes. Der deutsche Architekt Albert Bohm erbaute sie und die Einweihung des Gotteshauses wurde am 3. Juni 1893 feierlich begangen. 364 Tage später, am 2. Juni 1894, wurde der gesamte Friedhof eingeweiht.

Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 lebten fast 350.000 Russen zeitweise in Berlin. Damit waren die Zeiten vorbei, wo der kleine überschaubare Friedhof die letzte Ruhestätte einzig und allein für in Berlin tätige Diplomaten und hier verstorbenen Touristen aus Russland war. Auf dem Friedhof steht ein monumentales Denkmal zu Ehren des Komponisten Michail Iwanowitsch Glinka, der von 1804 bis 1857 lebte. Kuriosum: Der große Künstler liegt in St. Petersburg begraben, in Berlin wollte die Gemeinde ihm ein Denkmal ob seiner erfolgreichen Werke setzen. Dafür liegt ein anderer Komponist in Reinickendorf begraben: Vladimir Bunin, der von 1908 bis 1970 lebte.

Zwei russische Minister haben in der Wittestraße ebenfalls ihre letzte Ruhestätte gefunden: Wladimir Alexandrowitsch Suchomlinow lebte von 1848 bis 1926 und hatte das Amt des Kriegsministers des zaristischen Russlands von März 1909 bis Juni 1915 inne.

Der ehemalige russische Justizminister Vladimir Dmitrijewitsch Nabokov, 1870 geboren, floh nach der Oktoberrevolution nach Berlin und gründete einen Verlag für Exilrussen. An der Berliner Philharmonie wurde der ehemalige Politiker 1922 durch Pistolenschüsse ermordet. Sein Sohn Vladimir Nabokov, der von 1889 bis 1977 lebte, kam als Autor zu Weltruhm. Anfangs gab er seine Werke in Berlin heraus und kurz vor der Machtergreifung der Nazis floh der Schriftsteller mit seiner jüdischen Ehefrau in die USA, wo er den Roman „Lolita“ veröffentlichte.

Ein weiterer Künstlervater ruht in Reinickendorf: Der 1867 in St. Petersburg geborene Architekt Michail Ossipowitsch Eisenstein starb 1921 in Berlin. Ab 1915 durfte er sich „Staatsrat“ nennen, diesen Titel hatte ihm Zar Nikolaus II. verliehen. Die offizielle Anrede für den damals als „Stararchitekten“ gehandelten Eisenstein war daraufhin „Euer Hochwohlgeboren“. Der Sohn dieses „Hochwohlgeborenen“ ist der 1898 geborene Sergei Michailowitsch Eisenstein, der von 1898 bis 1948 lebte und als Filmregisseur mit seinen Werken wie „Panzerkreuzer Potemkin“ und „Oktober“ von sich reden machte. Ein namhafter Regisseur von Weltruf fand in der Wittestraße ebenfalls seine letzte Ruhestätte. Bakhtiar Khudojnazarov kam am 29. Mai 1965 in Duschanbe, der heutigen Hauptstadt Tadschikistans, zur Welt. Der am 21. April 2015 in Berlin verstorbene Regisseur, Filmproduzent und Schauspieler erhielt zahlreiche Ehrungen. So beispielsweise 1991 beim Filmfestival in Turin. Sein Film „Brüder“ überzeugte so sehr die Jury, dass er die Auszeichnung „Bester Film“ erhielt. Im selben Jahr gewann Bakhtiar Khudojnazarov den „Großen Preis“ ebenfalls mit „Brüder“ beim Internationalen Filmfestival Mannheim. In Venedig gewann der Regisseur 1993 den Silbernen Löwen mit seinem Film „Neues Spiel, neues Glück“. Beim Internationalen Filmfestival 1999 in Tokio ehrte man seinen Film „Luna Papa“, der im deutschsprachigen Raum den Titel „Mondpapa“ trägt. Dieser Film erhielt ein Jahr später den Großen Preis beim Filmfestival in Sotchi. 2003 bekam der Regisseur auch in Sotchi den Großen Preis für seinen Film „Leben einmal anders“. Der Botschafter Tadschikistans besucht am Geburtstag und Todestag das Grab dieses beeindruckenden Kulturschaffenden und ehrt ihn im Namen seiner gesamten Nation mit einem Blumengebinde in den Nationalfarben des Staates. Die 1928 als Kind von russischen Emigranten in Berlin geborene Schauspielerin Irina Pabst fand 2004 hier auch ihre letzte Ruhestätte. Dem Publikum ist sie unter ihrem Künstlernamen Irina Garden ein Begriff. Besonders in Erinnerung bleibt ihre Hauptrolle als „Vera Dornbrink“ in dem 1952 gedrehten Krimi „Die Spur führt nach Berlin“.

In der Zeit des Nationalsozialismus und in den ersten Nachkriegsjahren fanden aus der UdSSR stammende Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Soldaten in Reinickendorf ihre letzte Ruhestätte. Einige Soldatengräber geben als Todesjahre 1946 und 1947 an. Das ist damit zu erklären, dass schwerverletze Angehörige der Roten Armee für eine Heimreise in die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 zu geschwächt waren und dann in Berlin verstarben.

Der im Westteil der damaligen Vier Sektoren Stadt Berlin gelegene Friedhof schlummerte regelrecht vor sich hin. Die westdeutsche Hauptstadt war Bonn, somit gab es in Westberlin keine aktiven Botschaften mehr. Die in der damaligen DDR verstorbenen Botschaftsangehörigen aus der UdSSR wurden in Ostberlin beerdigt. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang 1990 ist eine regelrechte Renaissance des Friedhofes zu beobachten. Zahlreiche Bürger der ehemaligen Sowjetunion mit dem Bekenntnis zur russisch-orthodoxen Kirche leben im wiedervereinten Deutschland und im Todesfall finden viele von ihnen ihre letzte Ruhestätte in der Wittestraße. Rumänien und Bulgarien sind jetzt EU Länder und deren Staatsbürger dürfen visafrei nach Deutschland einreisen und sich hier auch als Firmengründer betätigen. Versterben sie in Berlin, ist die Wittestraße oftmals ihre letzte Ruhestätte.

Private Spenden sorgten dafür, dass 2005 die Kirche saniert werden konnte. Heute finden dort nicht nur Trauergottesdienste statt. Regelmäßige Gottesdienste der russisch-orthodoxen Gemeinde finden statt und es sind immer zahlreiche Kirchenbesucher anwesend. Obwohl die Besucher diesem Glauben nicht angehören, es ist der Gesang in der Kirche, der die Besucher fasziniert. Die Bruderschaft ist weiterhin aktiv, auch heute soll es Leute aus Russland in Berlin geben, die am Hungertuch nagen. Aus verständlichen Gründen möchten die Betroffenen darüber nicht öffentlich reden. Wer diesen Friedhof persönlich aufsuchen möchte: Der BVG-Bus 125 hält direkt an der Ecke „Holzhauser Straße/Wittestraße.“ (Text/Fotos: Stimme-Der-Hauptstadt Volker Neef)

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Frank Pfuhl
Frank Pfuhl
SDHB Redaktion Berlin