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Eines Wintermorgens in Katta Langar Ota

Markt in Samarkand

Markt in Samarkand (Foto: Volker Neef)

Eines Wintermorgens in Katta Langar Ota

Usbekistan ist ein Land, das mit Tempo den Kurs in die Moderne aufgenommen hat. 

Dennoch birgt es nach wie vor Unbekanntes, Geheimnisvolles, Vergessenes, Verborgenes – und es steht zu wünschen, dass es hoffentlich ein wenig davon behält. Hier ein Beispiel vom außerhalb des Landes weitgehend unbekannten Ort Katta Langar Ota in der Region Kashkadarya, unweit der Grenze zu Afghanistan. Der östliche Teil von Kashkadarya, d.h. die heutigen Bezirke Kitab, Shahrisabz, Yakkabog, Qamashi und Guzor, sind in der Avesta (zoroastrischer Textkanon) genannt und „Gava“ benannt: der Ort, an dem die Sogdier (Bewohner des zentralasiatischen historischen und in der Bibel erwähnten Achämenidenreiches. Die Anwohner sind sich der besonderen Lage und Bedeutung ihres Ortes bewusst. 

Souvenirgeschäft (Foto: Volker Neef)

Das heutige Dorf Katta Langar Ota liegt im schwer zugänglichen Tal zwischen den Gebirgszügen von Hisar, unweit vom Dorf Kyziltepa im Bezirk Qamashi. Oberhalb des Ortes wurden Überreste antiker Schiffe gefunden. Auch Wasserspuren belegen, dass einst ein Fluss um diesen Ort floß. In Usbekistan gibt es häufiger Orte namens Langar, was übersetzt so viel heißt wie „Anker“, „Depot“, „Haltestelle“ und zumeist bedeutet, dass sich dort ein Schrein befindet. Früher soll es zumindest ein Städtchen gewesen sein, ein sagenumwobener Ort mit einer außergewöhnlichen Einwohnerstruktur auf hohem spirituellem Niveau: so befinden sich im näheren Umfeld die Gräber von 360 Heiligen und 123 Scheichs, derer auch heute noch gedacht wird. Um in dem schwer zugänglichen Tal zum hoch oben auf einem Hügel gelegenen Langar (auch: mazar), dem Schrein seines Gründers, Muhammad Sodiq, zu gelangen, muss man eine lange Treppe, die „Himmelsleiter“ genannt wird, hinaufsteigen. 

Zu beiden Seiten der Treppe sind alte und neue Gräber, zumeist von Sufis, die ihrem Lehrer auch nach dem Tod möglichst nahe sein wollten. Einige historische Grabsteine sind sehr kunstvoll verziert. Den Inschriften nach zu urteilen, wurden viele Dorfbewohner über 80 Jahre alt, manche sogar über 100 Jahre.

(Foto: Volker Neef)

Von Muhammad Sodiq heißt es, dass er einen so hohen Grad an Erleuchtung erreicht habe, dass er auch nach seinem Tod als eine Art Führer zwischen den Welten dient, weshalb die Zahl der Besucher des Schreins groß ist. Oben auf dem Hügel, am Ende der Treppe, gelangt man zu einem kleinen klassischen ca. 1520 erbauten und 2007 restaurierten Sakralbau: ein mit Ziegeln verkleidetes Kuppelgebäude dessen Aufsatz mit vier Kugeln weithin sichtbar ist. Diese sollen die vier Stufen der Erleuchtung symbolisieren: Scharia (Befolgung des Gesetzes), Tariqat (Streben nach Vervollkommnung), Maarifat (Verwirklichung der Einheit mit Gott) und al-Haqq (Verwirklichung der höheren Wahrheit, Verschmelzung mit Gott). 

Das kleine Gebäude birgt vier Gräber von: Sheikh Muhammad Sadiq und seinem Sohn, von Abul Hasan, einem Stammesführer aus dem Jemen. Er hatte seinem bisherigen Leben entsagt, sowie das Grab einer Frau, bei der es sich sogar um eine Tochter des großen Eroberers Amur Timur gehandelt haben soll. Im Inneren des Gebäudes ist die Kuppel mit Kalligraphien verziert und die Wände sind versehen mit seltenen Fliesen, auf denen in kufischer Schrift „Muhammad“ steht. Dies steht im Zusammenhang damit, dass das Dorf Katta Langar Ota aufgrund seiner schwer zugänglichen Lage über Jahrhunderte hin als Hüter wertvoller Artefakte des Islam fungiert hatte. So befand sich in diesem Raum eine Truhe in der ein weiterer Mantel Muhammads aufbewahrt war (berühmt ist vor allem der im Topkapi in Istanbul aufbewahrte Mantel) und ebenso waren dort geschützt vor Zugriffen einige Seiten des berühmten Osman Qur`an aufbewahrt, der sich jetzt im Museum in Tashkent befindet sowie 11 auf Gazellenhaut geschriebene Seiten eines der ältesten erhaltenen Qur`ane.

Samarkand (Foto: Volker Neef)

Professor Rizvan vom Institut für Orientalistik in St. Petersburg ließ sich davon inspirieren und begann mit Recherchen nach den fehlenden Seiten des „Langar-Qur`an“. Im Verlauf seiner Forschung gelang es ihm mit viel Geduld und hohem Aufwand, weitere Blätter in verschiedenen Ländern ausfindig zu machen. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen ins Ausland verbracht worden und schließlich der Langar-Moschee eine weitgehend vervollständigte Kopie des Qur`an übergeben zu können. Auf dem gegenüberliegenden Hügel befindet sich die ebenfalls sagenumwobene kleine Moschee aus dem 16. Jahrhundert, deren Patio von 19 Holzsäulen getragen wird. Von diesem heißt es, dass er buchstäblich an einem Tag erbaut wurde. Für die letzte Säule aber war nicht mehr genug Material übrig gewesen und so habe Muhammad Sodiq beschlossen, die letzte Säule aus Baumwolle herzustellen. Dies funktionierte und es war wie ein Wunder. 

Fräulein Malika in Nationaltracht (Foto: Volker Neef)

Nun soll bald eine umfassende Restaurierung im Auftrag des Ministeriums für Usbekisches Kulturerbe mit einem sorgfältig zusammengestellten Expertenteam aus verschiedenen Ländern beginnen. Unter anderem ist auch der Bau einer Brücke zwischen den beiden Hügeln geplant, um beispielsweise den Pilgern den schwierigen Aufstieg, im Sommer sind es deutlich über 40 Grad Celsius, zu erleichtern. Was die historisch belegte, höchst abenteuerliche Geschichte über die Rückkehr von Osmans Qur`ran aus der Sowjetunion anbelangt, gibt es einen wunderbaren Dokumentarfilm von Dr. F. Abdulkhalikov, der die abenteuerlichen Ereignisse auf fast kriminologische Weise veranschaulicht. Katta Langar Ota ist ein Ort voller Legenden. 

Usbekische Musiker (Foto: Volker Neef)

Abschließend noch ein Beispiel dieser zahlreichen wunderbaren Traditionen, die Teil des immateriellen Kulturerbes Usbekistans sind: Eines Wintermorgens wachte Muhammad Sodiq auf – es war bitterkalt und er hatte verschlafen. Er war besorgt, weil es zu seinen Aufgaben gehörte, frühmorgens warmes Wasser für seinen Lehrer, einen berühmten Sufi, vorzubereiten. Doch dafür hatte er nicht genug Zeit und während er zu seinem Sheikh lief, presste er den Krug mit dem Wasser unter seiner Kleidung in der Hoffnung, dass er sich wenigstens ein wenig erwärmen würde, fest an seinen Körper: Als er dem Lehrer den Krug brachte, war er überrascht, denn das Wasser kochte! Der Scheikh sagte Muhammad Sodiq, dass er den höchsten Punkt dessen erreicht habe, was er ihm beibringen könne. Ferner sagte er, dass es keinen Grund mehr gäbe, sich gemeinsam an ein und demselben Ort aufzuhalten und wies ihn an, sich auf einem Kamel auf die Reise zu begeben. Er solle sich dort niederzulassen, wo das Kamel schließlich anhalten würde. Überraschenderweise zog das Kamel in die Bergschluchten des Flusses Qashka Darya – obwohl Kamele in bergiger Umgebung normalerweise Schwierigkeiten beim Gehen haben und dort im Tal wo es anhielt, entstand das Dorf Langar. 

Text: Kathleen Göbel

Foto: Volker Neef

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Frank Pfuhl
Frank Pfuhl
SDHB Redaktion Berlin