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Berlinale: Für die Vielen-Die Arbeiterkammer Wien

Für die Vielen-Die Arbeiterkammer Wien (Foto: Navigator Film)

Berlinale: Für die Vielen-Die Arbeiterkammer Wien

Im Rahmen der 72. Berlinale zeigte der österreichische Regisseur Constantin Wulff in der Sektion Forum seinen Film:„Für die Vielen-Die Arbeiterkammer Wien“. Der Dokumentarfilm hat eine Länge von zwei Stunden, die dort zu hörenden Sprachen sind deutsch, türkisch, ungarisch und serbokroatisch. 

Vor über 100 Jahren gründete sich in Österreich die „Kammer für Arbeiter und Angestellte“ (AK). Sie ist die gesetzliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer in Österreich. Passiert einem Arbeitnehmer Unrecht am Arbeitsplatz, wendet er sich an die AK. Constantin Wulff konnte Arbeitnehmer bewegen, in dem im Herbst 2019 gedrehten Dokumentarfilm ihre Sorgen und Nöte zu erzählen und die Mitarbeiter der AK sind mit ihren Ratschlägen zu hören. Da kommen Menschen zu Wort, die von vielen Gemeinheiten und Boshaftigkeiten am Arbeitsplatz durch Vorgesetze und Firmeninhaber sowie Managern berichten müssen.

Man sieht einen Herrn, knapp über 60 Jahre alt, sehr gut gekleidet und distinguiert sprechend, im Beratungsraum der AK. In vier Monaten wäre er 25 Jahre bei der Firma tätig und hätte Anspruch auf eine Gehaltserhöhung und eine Betriebsrente. Dem Leitenden kaufmännischen Angestellten wird von Topmanagern eingeredet, so der Herr, er sei doch nicht mehr der Allerjüngste im Betrieb. Als er vor knapp einem Vierteljahrhundert seine Arbeit dort aufgenommen hatte, gab es noch Durchschlagpapier, Rechenmaschine und Stenoblock sowie Schreibmaschine. Mit blumigen Worten will man ihm klarmachen, das Internetzeitalter ist doch nichts für den Senior. Er möge doch zum Arzt gehen und der Mediziner werde immer etwas finden, das „den alten Mann“ von heute auf morgen zum Pensionisten machen werde. „Die Strategie ist klar“, sagt der Betroffene. „Man will mich vor der Schallgrenze 25- jähriges Dienstjubiläum loswerden. Erst versucht man es mit guten Worten. Ich befürchte, wenn ich nicht zustimme, setzten die Manager mir mehr zu“. (Hinweis: Im Film klingt all das Gesprochene im Wiener Dialekt bedeutend klangvoller als die Schreibweise eines Redakteurs). Der Mitarbeiter hat „fast 25 Jahre alles für die Firma gegeben und jetzt wollen sie mich wie einen räudigen Hund vor die Tür setzen“. Eine ältere Dame weint. Sie ist verzweifelt, seit drei Monaten hat sie kein Gehalt bekommen. „Immer und immer wieder hat man mich vertröstet. Ich habe keine Ersparnisse mehr und habe Angst, bald die Miete nicht mehr bezahlen zu können. Dann bin ich obdachlos“. Eine junge Frau ist bei einem Versandunternehmen tätig, dass für einen Weltkonzern als Subunternehmer auftritt. Der große Onlinehändler wäscht seine Hände in Unschuld, da er ja nicht der Arbeitgeber dieser Dame ist. Sie kann berichten: „Die ersten 14. Tage ging es sehr menschlich zu am neuen Arbeitsplatz. Dann haben die Chefs die Daumenschrauben angezogen. Wir durften auch nicht trinken am Arbeitsplatz, selbst bei größter Hitze in den stickigen Hallen nicht. Wir sollten nur noch in den Pausen trinken. Die Bosse haben das Trinkverbot streng überwacht. Einige, besonders ältere Mitarbeiter, gingen auf die Toilette, um dort schnell Kranwasser zu trinken.“ Die Mitarbeiter der AK sind oft mehrsprachig. So können sie Arbeitnehmer in anderen Sprachen beraten. Es sind besonders migrantische Kräfte in den Bereichen Hotel, Gastronomie und Bau, die ausgebeutet werden. Mündliche Vereinbarungen wie Zuschläge an Sonn- und Feiertagen und in der Nachtschicht sind plötzlich obsolet. Der Chef kann sich nicht mehr daran erinnern oder hat im Einstellungsgespräch gesagt, dass solche Zuschläge „vielleicht gezahlt werden“. Der Arbeitnehmer mit kroatischen, türkischen oder ungarischen Wurzeln hat bestimmt das Wort „vielleicht“ überhört, so der Arbeitgeber. Arbeitet ein aus dem EU-Land Ungarn stammendes Zimmermädchen 3 Monate lang in einem Hotel in Wien und sie hat nur ihr Grundgehalt bekommen ohne die versprochenen Zuschläge für die Arbeit an Sonntagen, weil man ihr vertröstend sagte, diese kommen bestimmt mit der nächsten oder übernächsten Lohnabrechnung, hat der Hotelier ein gutes Geschäft gemacht. Wutentbrannt kündigt das Zimmermädchen nach wenigen Monaten Dienstzeit und sucht sich einen seriösen Arbeitgeber. Ihre versprochenen Zuschläge wird sie nie erhalten. Der raffgierige Hotelier hält längst schon nach einem neuen Opfer Ausschau. 

Beeindruckend eine Szene, an der Renate Anderl, die Frau Präsidentin der AK, mit ihren Referenten zur Bekämpfung des Subunternehmertums, die Vorgehensweise dieses Geschäftszweiges bespricht. Man sieht das alles an einer Schautafel dargestellt. Da wird ein großer Bauauftrag, auch von Vater Staat Felix Austria!! vergeben. Der große, international bekannte Baukonzern leitet Aufträge an Subunternehmen weiter. Diese wiederum an andere Unternehmen. Man hat es mit Subsubsubsubunternehmen zu tun. Diese sind absichtlich so verschachtelt, dass man da nicht durchblickt. Es soll ja auch keiner durchblicken, das ist ja das Ziel der geldgierigen Bosse. Manche kleine Firma sitzt auf den Niederländischen Antillen oder den Cayman Inseln. Bauarbeiter aus vielen Nationen werden mit einem Kleinbus in Österreichs Hauptstadt zur Baustelle A am Montag gefahren, am Dienstag zur Baustelle B und am Mittwoch zur Baustelle C. Am Donnerstag geht es dann zur A-Baustelle und Freitag zur C-Baustelle. Mitarbeiter der AK sind inkognito dem ein oder anderen Kleinbus gefolgt. Die Baustelle ist vom Wachtschutz hermetisch abgeriegelt worden, Besucher sind unerwünscht. Man erfährt auch, solches Subunternehmen-Geschäftsgebaren könnte die Politik austrocknen, wenn sie es nur wollte.

Für die Vielen-Die Arbeiterkammer Wien
Constantin Wulff
Copyright: Constantin Wulff

Constantin Wulff und seinem Team ist es gelungen, ein sehr feinfühliges Portrait der AK, ihrer Mitarbeiter und ihrer Kunden dem Zuschauer näherzubringen. Er klagt auch nicht an! Wie ein Briefträger keinen Einfluss auf das Geschriebene von Postkarten und den Inhalt der Briefe hat, so hatte Wulff auch keinen Einfluss auf die Sorgen und Nöte der in Österreich tätigen Arbeitnehmer. Natürlich trifft die alte Weisheit: „Es gibt Solche und Solche“ auf beiden Seiten zu. Der ein oder andere Unternehmer muss berichten, dass ihn da ein Mitarbeiter nach Strich und Faden betrogen hatte, er unterschlug Geld und firmeneigenes Material nahm er mit nach Hause. Die Mitarbeiter der AK können entgegnen, es gibt Arbeitgeber, die nicht nur Löhne nachzahlen mussten nach richterlichen Urteilen, sondern sogar „gesiebte Luft hinter schwedischen Gardinen“ einatmen mussten ob ihrer Betrügereien an Beschäftigten. Zum Glück sind Bösewichter auf Seiten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Ausnahme. Wenn dem nicht so wäre, müsste die AK beispielsweise noch mehr Dienstgebäude und Mitarbeiter aufweisen. 

Eine interessante Frage hat Constantin Wulff nicht aufgeworfen: Hat eigentlich schon einmal ein Mitarbeiter der AK sich im Unrecht gefühlt und die AK um Hilfe gebeten? Nicht alle dort Beschäftigten sind Beamte der Republik Österreich. Der Dokumentarfilm besticht durch seine Sachlichkeit. Constantin Wulff lässt Mitarbeiter der AK und Betroffene „frei weg von der Leber“ zu Wort kommen. Er stellt keine Fragen und spricht nicht in seinen Film hinein. Der herausragende Regisseur nimmt das Wort „Dokumentarfilm“ wörtlich; Dokumente werden gefilmt. In diesem Fall sind es die Beschäftigten der AK und die Arbeitnehmer, deretwegen Dokumente angefertigt werden. Erst versucht die AK bei leichteren Fällen, in einem Anschreiben an den Firmeninhaber, ihn zum Umdenken und einem anderen Handeln zu bewegen. Hilft so ein nettes Schreiben nicht weiter, werden härtere Dokumente eingesetzt, die von behördlich angeordneten Firmendurchsuchungen über Pfändungen des Firmeneigentums bis zur Festnahme des Arbeitgebers führen können. Ein ganz großartiger Dokumentarfilm aus Wien!

(Text: Volker Neef/Fotos: Constantin Wulff; Navigator Film)

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Frank Pfuhl
Frank Pfuhl
SDHB Redaktion Berlin